In einer schneereichen Winternacht im Februar 1910 wird in England ein Baby geboren – und weil sich die Nabelschnur um seinen Hals gewickelt hat, muss der Arzt, der sich mühsam durch den Schnee gekämpft hat, schnell die Nabelschnur durchtrennen. Das Baby überlebt und bekommt den Namen Ursula.
Kate Atkinsons Roman Life After Life spielt das gleiche Leben immer wieder durch. Aber es ist jedes Mal ein anderes Leben. Ursula Todd, so heißt der im Februar 1910 geborene Säugling, durchlebt viele Leben, die sich irgendwie und irgendwo zwischen 1910 und 1967 abspielen Oft jeweils nur um eine Nuance verändert, läuft jedoch alles in eine komplett andere Richtung. Mal studiert Ursula, mal beschränkt sich die Ausbildung auf einen Steno-Kurs. Mal stirbt sie bei einem Luftangriff auf London. Dann sehen wir sie, wie sie mit einem Kind im Arm im zerbombten Berlin von 1945 stirbt. Schließlich sehen wir sie durch das London des Jahres 1967 spazieren.
Diese wiederholten Leben funktionieren ein bisschen wie ein Computerspiel. Wenn man zum zweiten Mal an die gleiche Stelle kommt, dann reagiert man schlauer als beim ersten Mal. Aber dadurch entstehen anderswo wieder neue Probleme.
Ursula weiß nicht, dass sie ihr Leben zum x-ten Mal lebt. Aber sie ahnt es. Und deshalb schicken ihre Eltern sie zum Psychiater, der ihr von Reinkarnation und Widergeburt erzählt. Und so laufen die Leben schließlich nicht nur nach- bzw. nebeneinander ab, sondern dann und wann laufen sie auch ineinander.
Am Schluss gibt es natürlich auch eine sehr realistische Erklärung für das, was da eigentlich passiert. Und man hat es auch schon geahnt beim Lesen. Aber es ist nur eine Erklärung, nicht die einzige. Vieles bleibt offen, viele Anspielungen verweisen auf andere Literatur, genannte und ungenannte. Dieser Roman ist, um es man mit Deleuze auszudrücken, ein wahres Rhizom.
Ins Spiel mit Fiktionen, mit Versionen und Visionen eingebettet
ist die Frage, die sich wohl jeder englische Autor irgendwann stellt: Was wäre
gewesen, wenn es Hitler nicht (mehr) gegeben hätte. Dieser Teil ist der, der am
uninteressantesten ist. Diese Frage hängt einem zum Hals heraus, und außerdem
hat Stephen Fry schon alles dazu geschrieben, was zu schreiben war.
Ansonsten aber ist der Roman gelungen. An manchen Stellen, vor allen jenen, die in Deutschland spielen, merkt man, dass Atkinson so sehr darauf brennt ihre recherchierten Fakten unterzubringen, dass das Erzählen an einer oder zwei Stellen zusammenzubrechen droht. Für mich als männlichem Leser hätte auch das Familiengedöns ein bisschen weniger sein können. Aber sonst ist Atkinson auf der Höhe ihres Könnens. Und obwohl es alles, was Life After Life bietet, irgendwo schon einmal gab in der Literaturgeschichte, ist dieser Roman etwas Neues. Zudem sorgt er dafür, dass man auch nach dem Lesen immer wieder an Ursula Todd und ihre vielen Leben hintereinander denkt. Und das mit das Beste, was man über einen Roman überhaupt sagen kann.
Kate Atkinson: Life
After Life. London: Transworld, 2013. £ 9,99
Vgl. auch hier.
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