Es war in einer dieser Buchhandlungsketten, in die es mich verschlagen hatte. Ich stand kurz vor einer längeren Bahnreise und hatte gedacht, dass es sicherlich nett wäre, etwas leichte Lektüre einzupacken für unterwegs. Nun ist es ja in diesen Buchhandelskettenfilialen nicht so ganz einfach Bücher zu finden. Ich irrte zwischen Unmengen von Moleskine-Kladden, Spieluhren, Schokoladentäfelchen mit witzlosen Sprüchen, Kugelschreibern und Special-Interest-Zeitschriften ("So spalten Sie schmerzlos Ihre Zunge: 20 Tipps, die Sie unbedingt beherzigen sollten") und erblickte erst nach geraumer Zeit am Horizont endlich: Bücher. Es waren Geschenkbücher, Kräuter-, Koch- und Fußballbücher, Kompendien irgendwelchen nutzlosen Wissens etc., aber es waren schon mal Bücher. Scherzeshalber fragte ich die Fachkraft, die ich in meiner Nähe entdeckte, nach der Lyrikabteilung. Sie verwies achselzuckend auf eine Ecke, in der zwei Bändchen mit Brechtgedichten neben einer Goetheauswahl lag. Aha, die Lyrikabteilung also! Aber ich wollte ja gar keine Lyrik. Ich wollte was Leichtes. Allerdings nichts im Stil von "Mama, ihme schmeckt es nichte" oder "Papa, Üwe hat mein Döner verschmäht". Wenn man noch Beweise für den Niedergang des deutschsprachigen Humors bräuchte, dann müsste man so etwas lesen. Offensichtlich waren meine Ansprüche aber jenseits des Marktes. Eine gute halbe Stunde verbrachte ich in dem Supermarkt formely known as Buchhandlung, bevor ich entnervt das Handtuch schmiss, das ich als Anhalter-Leser ja immer dabei habe, und schon gehen wollte, als ich aus meinen Augenwinkeln eine (zwar erbärmliche, aber immerhin:) Auswahl von Penguin Popular Classics entdeckte, zum Preis von 3 Euro pro Band. Fein, dachte ich, und schaute durch die Buchreihe. Die Auswahl war natürlich markerweichend: Grimm’s Fairy Tales standen da neben Madame Bowary, Crime and Punishment wurde flankiert von Heidi. Lauter Klassiker der englischen Literatur. Aber ich gab nicht auf, und nach zwei Minuten Hin- und Herschiebens des kompletten Regalbestands fand ich dann tatsächlich auch noch zwei originär englischsprachige Werke: Fitzgeralds The Great Gatsby, den ich auswendig singen kann, und The Adventures of Sherlock Holmes von Sir Arthur Conan Doyle.
Jetzt kommt der Augenblick, in dem ich mich bekennen muss: Ich kannte Sherlock Holmes bis dahin nur aus dem Fernsehen. Und aus dem Englischbuch. Und aus der Werbung. Gelesen hatte ich noch keine seiner Abenteuer. Es war mir daher durchaus 3 Euro wert, diese Lücke meiner literarischen Bildung zu schließen. Also ging ich zur Kasse, legte 3 Euro auf den Tresen und erhielt, eingepackt in eine Tüte mit etwa 4 Kilo Werbeprospekten, meinen Sherlock Holmes.
Und hier ist nun der Ort für mein zweites Bekenntnis: Auf der Bahnreise kam ich nicht dazu, Holmes zu lesen. Das lag allerdings nicht nur an den lauten Kids, die in der Reihe vor mir saßen (Lang lebe der Großraumwagen!) und demonstrierten, wie stark man die deutsche Sprache demütigen kann, ohne deshalb mit den geringsten Konsequenzen rechnen zu müssen. Es war auch einem kleinen Bändchen Gespenstergeschichten von Ambrose Bierce (Das Spukhaus, Frankfurt am Main: Insel, 6 Euro) geschuldet, das ich zum Geburtstag geschenkt bekommen hatte, und das – der Schenker hatte mich vorgewarnt – wirklich ziemlich kranke Erzählungen enthält. Erst im Sommerurlaub kam ich zu Sherlock Holmes. Und was ich las, das überraschte mich in gleich mehrfacher Hinsicht. Zunächst die Sprache: Der Stil dieser Erzählungen ist ruhig, einfach und unglaublich schön. Die Beschreibungen wirken wie klares Quellwasser, die Dialoge müssen zu ihrer Zeit wirklich supercool gewirkt haben: „Pray take a seat!“ Kann man netter zum Hinsetzen aufgefordert werden? Und dann die Beschreibungen des viktorianischen Londons und Ergebung: Kein Reiseführer kriegt so etwas hin: Hundekarren, Vorortzüge, verschneite Großstadtstraßen. Das alles ist ganz herrlich und macht regelrecht süchtig. Und dann die Figuren: Sherlock Holmes als koksendes, verschrobenes Genie, dem Verteidiger der Aufklärung, des Guten und Wahren, dem Idealbild der Vor- bzw. Frühmoderne. Dagegen Watson, mit Raabes Eduard aus Stopfkuchen zusammen einer der Väter des ahnungslosen Erzählers, ist ganz Herz und Seele. Und deshalb natürlich auch Spießer. Von den wunderbaren Schurken, versnobten Adeligen, die in Holmes sofort einen republikanischen Reflex auslösen, sowie den grandiosen Frauenfiguren will ich gar nichts weiter sagen. Davon zu schwärmen reicht völlig!
Die Kriminalfälle wirken aus heutiger Sicht nicht so grandios. Oftmals machen sie den Eindruck, an den Haaren herbeigezogen zu sein. Aber das tut den grandiosen Erzählungen Doyles keinen Abbruch. Wer Gelegenheit hat, für diesen Spottpreis dieses prächtige Buch zu erstehen, der möge keinen Augenblick zögern.
The Adventures of Sherlock Holmes war die erste Veröffentlichung von Holmes-Geschichte in Buchform. Erschienen 1892, eröffneten sie einen Reigen weiterer Sammelbände, die ich natürlich alle noch nicht kenne. Auch The Hound of Baskerville kenne ich bislang nur aus dem Fernsehen. Aber das wird sich mit Sicherheit ändern. Denn den gibt es auch als Penguin Popular Classic, und wenn ich Glück habe sogar im Gemischtwarenladen called Buchhandlung.
Eine Besonderheit der PPC-Ausgabe ist übrigens, dass man irgendeinen alten Satz des Buches verwendet hat. Das erhöht den Authentizitätsfaktor der Lektüre enorm. Am schönsten daran ist der doppelte Abstand hinter den Punkten. Wie zu Großvaters Zeiten!
Sir Arthur Conan Doyle: The Adventures of Sherlock Holmes. Penguin Popular Classics. London: Pengiuin, 1994, ca. 3 Euro.
1 Kommentar:
Blogger Karlheinz Mosblech said...
Kennst du »Der Hund von Baskerville« von Cindy & Bert, auf die Melodie von Black Sabbaths »Paranoid«? Das ist kriminell! Und wohl gerade am Thema vorbei -
10:29 AM
Blogger Karlheinz Mosblech said...
Thalia ist eine Frauenbuchhandlung. Du gehörst da einfach nicht zur Zielgruppe.
12:11 AM
Blogger Karlheinz Mosblech said...
Der Weiler ist für einen Düsseldorfer Schnösel gar nicht mal sooo unwitzig und außerdem hat er eine ganz anrührende Geschichte zu erzählen. Und sein Musikgeschmack geht auch noch knapp in Ordnung.
Schlimm ist der BWLer-/Sachbearbeiter-"Humor" von diesem Tommy Jaud. Ein Kapitel (Leseprobe im Börsenblatt) zu mir genommen und kein einziges Mal mit den Mundwinkeln gezuckt. Auch schon wieder 'ne Leistung.
11:28 AM
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